
Kinotipp | Juli
von Susanne Bieger
(Festivalleiterin, Kuratorin, Dramaturgin)
Im Mittelpunkt von VERMIGLIO – einer visuell eindringlichen und vielschichtigen Milieustudie über ein abgelegenes Bergdorf in den italienischen Alpen am Ende des Zweiten Weltkriegs – stehen drei Schwestern, deren Leben von den patriarchalen Strukturen ihrer ländlichen Umgebung geprägt sind.
Vermiglio
Regie: Maura Delpero
Kinostart: 24. Juli 2025
LUCIA, die älteste der drei Schwestern, hat ihre Schulzeit in der örtlichen Dorfschule beendet und geht jetzt ihrer MUTTER im Haus und auf dem Hof zur Hand. Ob im Stall beim Melken oder in der Küche bei der Ausgabe des spärlichen Frühstücks an ihre acht Geschwister, Lucia erfüllt die ihr zugewiesene Rolle pflichtbewusst ja sogar hingebungsvoll. Sie gehöre in die Berge, sagt ihr VATER, wie eine Gämse. Selbst als sie sich in PIETRO, einen jungen sizilianischen Deserteur verliebt, der sich im Dorf in einer Scheune versteckt, ist für Lucia klar, dass ihr Lebensmittelpunkt und der ihres zukünftigen Mannes in Vermiglio liegen muss. Bei der Hochzeit ist sie bereits schwanger, sodass ihre Mutter ihr Hochzeitskleid anpassen muss. Seitdem teilt sie sich das Bett nicht mehr mit ihren Schwestern, sondern mit Pietro, ihrem Ehemann. Glücklich geht das junge Ehepaar seinem Alltag als Bergbauern auf dem Hof ihrer Eltern nach und freuen sich auf die Geburt ihres ersten Kindes.
Die jüngste Schwester, FLAVIA, hingegen möchte später auf die weiterführende Schule in der Stadt gehen. Dafür braucht sie, das weiß sie, die Zustimmung ihres Vaters, der auch der Dorflehrer ist. Am Ende jedes Schuljahres bei der Ausgabe der Zeugnisse, bestimmt er, wer welchen Weg gehen wird und das nicht nur für seine Kinder, sondern für alle Kinder aus dem Dorf. Flavias ist wissbegierig und zielstrebig. Ihre Noten sind sehr gut und sie versteht es ihren Vater wohlwollend zu stimmen. Sie kennt aber auch die Schwächen des Patriarchen, da sie ihn aus einem Versteck beobachtet, wie er, während alle anderen hart arbeiten, in seinem Schreibzimmer sein geliebtes Grammophon aufzieht und eine seiner Lieblingsplatten – Chopin oder Vivaldi – spielt, einen Schlüssel unter einem Teppich hervorholt, sich an einer Schublade zu schaffen macht und sich dann rauchend auf das Sofa setzt und stundenlange in Gedanken schwelgt.
ADA, die mittlere Schwester, möchte auch auf die weiterführende Schule gehen, doch ihr Vater ist alles andere als zufrieden mit ihr. Denn Ada versteckt sich regelmäßig hinter Schranktüren, wo sie sich vermeintlich anzüglichen Gedanken hingibt und sich an Stellen berührt an denen junge Mädchen sich nicht berühren sollten. Danach betet sie inbrünstig und bestraft sich, indem sie sich im Hühnerstall mit dem Gesicht in Hühnerkot legt. Selbst Flavia findet, dass diese Strafen doch sehr drakonisch seien, und wundert sich, ob nicht auch ein paar „Gegrüßet seist du, Maria‘ ausreichend wären. Auch Adas Freundschaft mit VIRGINA, einem aufmüpfigen Mädchen aus dem Dorf, das Fahrrad fährt, raucht und mag, wie Ada sie ansieht, missfällt dem Vater. Zum Glück weiß er nicht, dass Ada sein Album mit Aktfotografien in seinem Schreibtisch gefunden hat. Seitdem kann Ada ihren Blick kaum von den nackten Frauen abwenden.

Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges, ändert sich für Lucia und ihre Schwestern alles. Lucia, bereits hochschwanger, ist verzweifelt, dass Pietro nach Sizilien reisen muss, um seine Mutter zu besuchen. Pietro versichert ihr, dass er noch vor der Geburt des gemeinsamen Kindes wieder zurück sein werde. Doch Pietro kommt nicht zurück. Lucia wartet wochenlang vergeblich auf ein Lebenszeichen. Dann steht es in der Zeitung. Flavia liest es der Familie vor: Pietro sei ein Bigamist. Er sei bereits in Sizilien verheiratet gewesen, wo ihn seine Frau bei seiner Rückkehr erschossen habe. Lucia ist am Boden verfällt in eine schwere Depression und lehnt nach der Geburt ihr Kind ab. Ihre Mutter, die gerade ihr zehntes Kind zur Welt gebracht hat, stillt jetzt beide Säuglinge. Es herrscht Ratlosigkeit. Was soll nun aus Lucia werden?
Ihre Schwestern Ada und Flavia erfahren am letzten Schultag von ihrem Vater, dass Flavia die weiterführende Schule besuchen darf. Ada hingegen müsse im Bergdorf bleiben. Für Ada ist das keine Option. Sie trifft eine einschneidende Entscheidung. Lucia, nachdem sie sich fast das Leben genommen hat, entscheidet sich auch für einen neuen Weg, der auch sie aus dem Dorf führen wird, wo, auch nach dem Krieg, die Welt und die Zeit stillsteht.
VERMIGLIO ist ein zutiefst beeindruckender Film, der nicht nur durch seine naturalistischen Bilder und die herausragenden schauspielerischen Leistungen überzeugt, sondern auch durch die vielschichtige Erzählweise und die bemerkenswerte Regie.
Jessica Kiang nennt Vermiglio „an intimate epic of miraculous rigor and restraint, set in a remote WWII-era mountain community.“
Jan Champion schwärmt: „Vermiglio“ hat mich verzaubert. Ich empfinde tiefen Respekt für Maura Delperos beeindruckendes Können als Regisseurin.
VERMIGLIO ist Maura Delperos zweiter Spielfilm nach MATERNAL (2019). Zuvor hat sie mehrere Dokumentarfilme gemacht. Sie gehört mit Alice Rohrwacher zu den renommiertesten italienischen Filmemacherinnen der Gegenwart.
VERMIGLIO feierte bei den Filmfestspielen in Venedig Weltpremiere und wurde mit dem Silbernen Löwen, dem Großen Preis der Jury, ausgezeichnet. Der Film war auch der große Gewinner beim italienischen Filmpreis. Er erhielt insgesamt sieben Auszeichnungen, darunter auch „bester Film“ und „bester Regie“. Maura Delpero ist die erste Frau, die diese Auszeichnung erhielt. In Deutschland lief der Film beim Filmfest Hamburg und beim Around the World in 14 Films Festival in Berlin. Der Film war auch für den Europäischen Filmpreis nominiert und war 2025 Italiens Beitrag zu den Oscars.
VERMIGLIO läuft ab dem 24.7. in einem Kino in eurer Nähe.
VERMIGLIO
Italien, Frankreich, Belgien 2024, 119 Min., FSK 12
Buch: Maura Delpero
Regie: Maura Delpero
Bildgestaltung: Mikhail Krichman
Produzent*innen: Francesca Andreoli, Leonardo Guerra Seràgnoli, Maura Delpero, Santiago Fondevila Sancet.