
Kinotipp | April
Von Susanne Bieger
(Festivalleiterin, Kuratorin, Dramaturgin)
TOXIC
Buch & Regie: Saulė Bliuvaitė
Kinostart: 24. April 2025
Eine der großen Entdeckungen des Festivaljahres 2024 ist: Saulė Bliuvaitė
Mit ihrem Spielfilmdebüt TOXIC landete die Drehbuchautorin und Regisseurin Saulė Bliuvaitė im vergangenen Jahr auf Anhieb im Wettbewerb des 77. Locarno Film Festivals. Eine bemerkenswerte Leistung, da Debüts in der Regel in den Nebenreihen der großen Festivals präsentiert werden. Doch damit nicht genug. TOXIC wurde in Locarno mit gleich drei Preisen ausgezeichnet: dem Ökumenischen Filmpreis, dem Preis für Bestes Debüt und dem Golden Leoparden, dem Hauptpreis des Festivals. TOXIC räumte förmlich ab und vollkommen zurecht.
Im Zentrum der Geschichte steht die introvertierte 13-jährige Marija (Vesta Matulytė). Sie wurde aufs Land zu ihrer Großmutter geschickt, wo sie wegen ihrer Gehbeeinträchtigung gemobbt wird. Bereits am Anfang des Films steht sie im Badeanzug, frierend in einer Umkleidekabine. Jemand hat ihre Jeans gestohlen. Wer könnte das gewesen sein? Die gleichaltrige Kristina, (Ieva Rupeikaitė), liefert sich derweil ein Pickup-Basketball-Spiel mit ausschließlich älteren Männern. Selbstverständlich trägt sie Marijas Jeans, die ihr zu groß sind. Nachdem die beiden Mädchen auf einer verlassenen, regennassen Straße in einem regelrechten Wrestling Match um die Jeans kämpfen, finden sie schließlich zueinander, vereint durch ein gemeinsames Ziel: nichts wie weg aus ihrer Welt. Der scheinbar einzige Ausweg ist eine Modelagentur. Doch schnell wird klar, dass diese vermeintliche Talentschmiede den jungen Mädchen genau das nimmt, was sie eigentlich brauchen: Selbstvertrauen.
Saulė Bliuvaitės Film spielt in einem ländlich anmutenden Raum am Rande einer litauischen Stadt, der einer Industriebrache gleicht: Autowracks und stillgelegte Fabriken prägen die Landschaft. Die kühle Ästhetik des Films unterstreicht das Gefühl der Isolation und Hoffnungslosigkeit. Bliuvaitė findet klare Bilder für die patriarchale Gewalt, der die Köper der jungen Mädchen ausgesetzt sind. Ständig werden sie evaluiert und kritisiert und aufgefordert ihre Körper zu verbessern, koste es was es wolle. In einem Gegenschnitt zeigt die Regisseurin, wie unterschiedlich männliche und weibliche Körper sich bewegen. Während ein junger Mann in einer Gasse Martial Arts-ähnliche Bewegungen macht – schnell, kraftvoll – stehen die jungen Frauen regungslos an einer Wand und halten still, während ihre Maße genommen werden oder verharren in starren Posen.
Bliuvaitė zeigt strukturelle Ungerechtigkeit auf und zeichnet komplexe Figuren, die zwar diesen widrigen Umständen ausgesetzt sind, aber zu keinem Zeitpunkt Opfer sind. Ihre Figuren sind nie passiv. Sie sind aktiv. Sie suchen sich ihren Weg aus der Unterdrückung. Dieser Weg ist kein einfacher und führt auch immer wieder auf Abwege, denn die Mädchen bekommen keinen Rückhalt von ihrem Umfeld. Marijas Mutter ist abwesend. Wir sehen sie gar nicht. Wir hören sie nur im Off. Kristina lebt zwar bei ihrem Vater, aber auch er kann seiner Tochter nicht das geben, was sie braucht. Marija und Kristina sind keine Heldinnen. Sie sind Suchende. Sie sind solidarisch! Aus der anfänglichen Feindschaft wird eine Freundschaft. So gelingt es Bliuvaitė, Hoffnung in einer Welt zu schaffen, in der es keine zu geben scheint.
Saulė Bliuvaitės Spielfilmdebüt läuft ab dem 24.4. in einem Kino in deiner Nähe.
(Wichtiger Hinweis: Im Film werden Themen wie Körperbildprobleme und Essstörungen erzählt. Diese Inhalte können belastend sein.)
TOXIC
Spielfilm Litauen 2024
FSK 16
Buch & Regie: Saulė Bliuvaitė
Kamera: Vytautas Katkus
Montage: Ignė Narbutaitė
Szenenbild: Paulius Aničas
Komponist: Gediminas Jakubka
Produkion: Giedrė Burokaitė
Ausführende Produktion: Justė Michailinaitė
Produktionsfirma: Akis bado
Cast: Ieva Rupeikaitė, Vesta Matulytė, Giedrius Savickas, Vilma Raubaitė, Eglė Gabrėnaitė, u.a.